K.-M. Wollin
Abstract aus dem Handbuch der Umweltmedizin:
Als Hydraulic Fracturing (oder Fracking) wird eine seit Ende 1940 eingeführte Technologie der Erdöl- und Erdgasförderung bezeichnet. Sie besteht in der Injektion eines Gemisches aus Wasser, Stützmitteln und Frac-Fluids (Chemikalien mit definierten Funktionen) unter hohem Druck, um in den erdöl- oder erdgasführenden Gesteinsformationen kleine Risse zu erzeugen. Dadurch wird ein besserer Fluss des Erdöls oder Erdgases aus dem Reservoir hin zur Förderbohrung erreicht. Im engeren Sinne umfasst Hydraulic Fracturing die initiale und anschließende Stimulationsprozedur, nicht jedoch die Gesamtheit der technologischen Abläufe der Erdöl-/Erdgasgewinnung aus Kohlenwasserstoff-Vorkommen. Mittlerweile ist sie ein industrieller Standard geworden, dessen weitere technische Optimierung (darunter auch die Verwendung weniger toxischer oder nichttoxischer Frac-Chemikalien) anhält.
Der Schiefergas-Boom in den USA vornehmlich zwischen 2010 und 2015 führte dazu, dass sich in zunehmendem Maße die Öffentlichkeit mit den Folgen des Hydraulic Fracturing auseinandersetzte. Die in den USA begonnene Debatte über mögliche Umweltbeeinflussungen und gesundheitliche Risiken für die Allgemeinbevölkerung fand ihren Niederschlag auch in Deutschland, als hier erste Aktivitäten zur Erschließung der nicht-konventionellen Erdgasvorkommen starteten.Der gesellschaftliche Diskurs umfasst eine Vielzahl von Themen, die weit über gesundheitliche Aspekte oder Auswirkungen auf die Umwelt hinausgehen und weiterhin Fragen wie z.B. den Beitrag der Erdöl-/Erdgasgewinnung aus nicht-konventionellen Vorkommen zur Sicherheit der Energieversorgung, Auswirkungen auf Naturhaushalt, Landschaftsbild, sozioökonomische Kriterien, biologische Vielfalt usf. beinhalten.
Die wissenschaftlicheUntersuchung der durch Hydraulic-Fracturing-Operationen vermittelten möglichen gesundheitlichen Risiken führte bisher zu uneinheitlichen Resultaten, bei gleichzeitig bestehenden, nicht unerheblichen Datenlücken. Sofern es (in den USA) zu gesundheitlich relevanten Umweltbelastungen gekommen ist, waren hauptsächlich die Kompartimente Grund-/Oberflächenwasser und Außenluft betroffen, wobei (erd)oberflächennahe Aktivitäten das höchste Gefährdungspotenzial aufweisen. Von allen Teilvorgängen des Hydraulic-Fracturing-Prozesses scheint der Umgang mit dem Produktions-/Lagerstättenwasser die größte Herausforderung darzustellen. Die komplexen Schadstoffinventare im Fall des Flow Back oder Produktionswassers sind – vor dem Hintergrund der ablaufenden umweltchemischen Reaktionen der Frac-Chemikalien – nur näherungsweise bekannt, so dass hier die Datenlage zu verbessern ist. Eine hauptsächliche Lücke in der gesundheitlichen Risikobewertung besteht darin, dass die Bewertung der Auswirkungen auf die Umweltkompartimente Wasser, Boden und Außenluft regelhaft nicht auf ein qualifiziertes Baseline-Monitoring vor Beginn von Frac-Operationen zurückgreifen kann. Weiterhin muss bei zu bewertenden Emissionen/Immissionen aus HF- und Nicht-HF-Prozessen die Differenzierung mittels geeigneter und vor allem spezifischer Target-Substanzen erfolgen bzw. möglich sein. Bei der Bewertung von Risiken für die Gesundheit des Menschen muss essenziell die Verknüpfung gemessener (oder prognostizierter) stofflicher Umweltbelastungen durch HF-Operationen mit einem spezifisch-realistischen Expositionsszenario im Vordergrund stehen.
In Deutschland findet die Gewinnung von Kohlenwasserstoffen aus Tight-Gas-Lagerstätten mittels hydraulischer Bohrlochstimulation seit 1961 statt. Allein in Niedersachsen wurden seitdem 327 hydraulische Stimulationen in 148 Bohrungen durchgeführt; Schiefergas wird in Deutschland kommerziell
dagegen nicht gefördert. Die einfache Projektion der Verhältnisse, unter denen die (nicht-konventionelle)
Erdgas-Förderung in den USA erfolgt(e), auf Deutschland ist nicht statthaft. So können die in der
wissenschaftlichen Literatur berichteten Belastungen der Umwelt und adversen gesundheitlichen Effekte,
wenn sie wie in den USA mit der Überschreitung rechtlicher Normative des gesundheitsbezogenen
Umweltschutzes einhergehen, nicht als generelles Merkmal des Hydraulic Fracturing postuliert werden.
Sie sind vielmehr Ausdruck der Nichtbeachtung potenzieller geologischer und toxikologischer Risiken
sowie unzureichender Anforderungen in der Genehmigungspraxis derartiger Anlagen. Grundsätzlich
ist eine staatliche Deregulierung, d.h. Ausnahmen bei gesetzlichen Umweltstandards, wie sie in der
Vergangenheit in den USA z.B. mit dem Bezug auf den Safe Drinking Water Act (SDWA) erfolgte, angesichts des regulatorischen Rahmens in der EU – und in Deutschland insbesondere seit 2016 mit den neuen drei Teilregelungen zur HF-Technologie (und auch bereits vorher) – nicht denkbar. Zudem existiert in den USA eine völlig andere und mit der Situation in Deutschland nicht vergleichbare Dimension der (unkonventionellen) Erdöl-/Erdgasförderung und Anwendung der HF-Technologie insbesondere auch in Shale-Gas-Formationen. Die bisher erhobenen Daten zu möglichen Umweltbelastungen durch die Erdgas-/Erdölförderung in Deutschland, speziell in Niedersachsen, zeigen folgendes Bild: Großräumige Gewässerbelastungen (Oberflächenwasser, Grundwasser/Brauchwasser)
durch Hydraulic Fracturing aus den deutschen Tight-Gas-Lagerstätten sind nicht bekannt. Lokale Bodenkontaminationen und Belastungen des Bodensickerwassers als Punktbelastung sind häufig durch schadhafte Lagerstättenwasserleitungen verursacht worden, ein Problem, das nicht gelöst ist und fortzubestehen scheint. Die Anfang 2018 vorgelegte systematische Untersuchung von Boden- und Sedimentproben aus der Umgebung aktiver Erdgasförderplätze in Niedersachsen ergab dagegen eine weitaus geringere Boden-/Sedimentbelastung mit dem Erdgas-Spurenbestandteil Quecksilber sowohl von der Höhe der Belastung als auch von der Zahl der betroffenen Proben her als angenommen. Die dagegen deutlich erhöhten Boden- und Grundwasserbelastungen eines ehemaligen Betriebsplatzes stehen in Zusammenhang mit sekundären technologischen Prozessen (Rohölaufbereitung) und nicht primären Frac-Vorgängen. Die in einem niedersächsischen Landkreis mit einer hohen Zahl von Erdgasförderplätzen ermittelten vorläufigen Daten zur Belastung der Außenluft in der Immission zeigen keine Überschreitungen gesetzlicher Grenzwerte oder anderer gesundheitlich begründeter Leitwerte. In den Fällen von bestätigten Erhöhungen hämatologischer Krebsformen in niedersächsischen Gemeinden mit Erdgas-/Erdölförderaktivitäten konnte ein Zusammenhang zwischen der Kohlenwasserstoffförderung und den Krebsclustern bislang nicht belegt werden.
Folgende generelle Problembereiche existieren, wenn es um die Betrachtung toxikologischer Risiken durch HF-Techniken im Public Health-Kontext geht: Die teilweise nicht eindeutige Beschreibung der Frac-Fluid-Zusammensetzung (erst in jüngerer Zeit erfolgte zunehmend die Offenlegung der Rezepturen in einschlägigen Registern); die Verwendung von Frac-Chemikalien mit CMR-Eigenschaften; die teils unvollständige toxikologische Datenbasis verwendeter Frac-Chemikalien und vor allem die nichtadäquate
Beurteilung gesundheitlicher Risiken ausschließlich auf der Grundlage der intrinsischen Toxizität ohne
Verknüpfung mit konkreten Expositionsszenarien. Wenn nur unzureichende oder keine toxikologische Daten für eine solide Charakterisierung des Gefährdungspotenzials der relevanten Frac-Chemikalien
zur Verfügung stehen, könnte (zumindest vorläufig) mit toxikologischen Ansätzen wie z.B. dem TTC-Ansatz oder ggf. dem vorsorgeorientierten GOW-Konzept gearbeitet werden.
Überlagertwird der spezifische Kontext der gesundheitlichen Bewertung von stofflichen Emissionen/Immissionen aus Hydraulic-Fracturing-Operationen zudem durch die aktuellen thematischen Herausforderungen der Toxikologie (z.B. Mechanismen/Schwellenwertkonzepte der Kanzerogenese; nichtmonotone Dosis-Wirkungsbeziehungen, Definition/Bewertung endokriner Disruptoren; Toxizität von Substanzgemischen sowie spezielle Aspekte der Immun-und Entwicklungsneurotoxizität).
Die anhaltende Entwicklung der Hydraulic-Fracturing-Technologie verlangt zwingend – bei einem multidisziplinären Ansatz, der explizit die Umweltwissenschaften und Geologie und auch andere Wissenschaftsbereiche einschließen muss – einen fundierten Beitrag der Toxikologie zur Identifizierung möglicher Gefährdungspotenziale, der Expositionscharakterisierung auf Basis gemessener Stoffkonzentrationen und zur Bewertung stofflicher Risiken in Bezug auf die Allgemeinbevölkerung (wie auch der Risiken am Arbeitsplatz). Nur so kann ein auf hohem wissenschaftlichem Standard beruhender Wissenstransfer zwischenWissenschaft und Gesellschaft gelingen, der eine unabdingbare Voraussetzung für den sachlichen Diskurs über mögliche toxikologische (und andere) Risiken der Technologie ist.
Zitierweise:
Wollin K-M (2018). Hydraulic Fracturing in der Erdgas- und Erdölförderung. In: Wichmann HE, Fromme H (Hrsg): Handbuch der Umweltmedizin, Kap. VIII-2.1, 62. Erg.Lfg., ecomed Medizin, Landsberg
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